31. Dezember 2023

Selen und Brustkrebstherapie

Selen und Brustkrebstherapie:
Studie stellt „Antioxidantien“ in Frage. Was ist dran?
Der menschliche Organismus benötigt für eine optimale Funktion Mikronährstoffe (Vitamine, Spurenelemente, Mineralien, Ballaststoffe, sekundäre Pflanzenstoffe) in ausreichender Menge und in richtiger Zusammensetzung. Bei Menschen mit ausgewogener Ernährung sind Mangelzustände meist die Ausnahme. Bei erkrankten Menschen kann das anders sein. Krebsstandardtherapien, wie zum Beispiel Chemo- oder Strahlentherapien, können das Ernährungsverhalten verändern und Mangelzustände entstehen lassen. Hier kann die kontrollierte Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln im individuellen Fall sinnvoll sein.
Das gilt zum Beispiel für Selen, dass unter den Oberbegriff Antioxidantie fällt. Es ist wissenschaftlich belegt, dass onkologische Therapien bei höheren Selenwerten im Blut signifikant besser verträglich sind. Es wird daher empfohlen, den Selenspiegel zu kontrollieren und einen etwaigen Mangel auszugleichen.
Trotz dieser gesicherten Aussagen wird das Thema „Antioxidantien“ immer wieder kontrovers diskutiert. Dies beruht auf der Beobachtung, dass die Wirksamkeit von Chemo- und Strahlentherapien auf der Aktivität von sogenannten freien Radikalen beruht. Eine Neutralisierung der therapeutisch wichtigen freien Radikale durch Antioxidantien, könnte die Wirksamkeit von Chemo- oder Strahlentherapie mindern oder gar aufheben. Aktuell werden Krebspatienten und Ärzte durch eine Untersuchung (Audrey et al.; Am J Clin Nutr 2019;109:69-78) auf Grundlage der MARIE-Studie verunsichert. Die Aussage: die Einnahme von antioxidantienhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln (z.B. Selen) zeitgleich zur Chemo- oder Strahlentherapie gehe mit einer erhöhten Rezidiv- (Rückfall-) und Sterberate bei Brustkrebspatientinnen einher. Da diese retrospektive, auf Fragebögen basierende Untersuchung gravierende methodische Mängel aufweist, können die Ergebnisse, diese Aussagen nicht belegen. Insbesondere die Tatsache, dass die Auswertung der Untersuchungsdaten weder die Art der Antioxidantien noch deren Mischung, Dosierung und Einnahmedauer spezifiziert, lässt keine wissenschaftlich fundierte Aussage zu. Höchst mangelhaft ist zudem das Vorgehen, unterschiedlich wirkende Antioxidantien gemeinsam zu bewerten, um überhaupt eine statistische Aussage zu ermöglichen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind die getroffenen Schlussfolgerungen daher nicht haltbar.
 
Fazit: Es gilt die Empfehlung, sich weiterhin an der aktuellen S3-Leitlinie „Brustkrebs“ sowie an der Faktenaufstellung der Arbeitsgruppe Prävention und Integrative Onkologie (PRIO) der DKG zu orientieren.
Aktuelle Faktenlage „Selen“
Die aktuelle S3-Leitlinie (2019) „Brustkrebs“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) konstatiert bezüglich Selen als komplementärmedizinische Behandlung:

  1.  „Keine Hinweise auf eine Abschwächung der Wirkung antitumoraler Therapien in präklinischen wie klinischen Daten“;
  2. „Kurzfristig auch hoch dosierter Einsatz ohne Nebenwirkungen“;
  3. „langfristige Gaben nur unter Spiegelkontrolle“.

Die Arbeitsgruppe Prävention und Integrative Onkologie (PRIO) der DKG schlussfolgert im aktuellen Faktenblatt „Selen“ (2019):

  1. „die Verträglichkeit onkologischer Therapien mit höheren Selenwerten im Blut ist signifikant besser“;
  2. „Selenmangel sollte ausgeglichen werden“;
  3. Anorganische Selenpräparate sind vorzuziehen, da Überdosierungen ausgeschlossen sind.“

 Januar 2020, Institut zu wissenschaftlichen Evaluation naturheilkundlicher Verfahren an der Universität zu Köln

Selentherapie

Selen ist ein lebensnotwendiges Spurenelement. Es ist Bestandteil von körpereigenen Enzymen und reguliert den Stoffwechsel sowie die Funktion mehrerer Organe. In chemischer Verbindung mit Natrium (Na) wird es als Na-Selenit optimal vom Körper aufgenommen und in antioxidative Enzyme eingebaut. Diese antioxidativen, selenhaltigen Enzyme sind in der Lage, sogenannte „freie Radikale“ zu neutralisieren, die u.a. bei Chemo- und Strahlentherapien vermehrt entstehen. Freie Radikale sind chemisch hochreaktive Sauerstoffmoleküle, die in gesunden Zellen Entartung, Funktionsverlust und Entzündungsreaktionen hervorrufen können. Durch Selen aktivierte antioxidative Enzyme können die Körperzellen hiervor schützen.

Krebszellen hingegen haben einen anderen Stoffwechsel und andere Regenerationsmechanismen als gesunde Zellen. Die antioxidativen Enzyme werden hier nicht durch Selen aktiviert. Deshalb werden Krebszellen durch Selen nicht geschützt. In experimentellen Untersuchungen konnte vielmehr gezeigt werden, dass die krebszelltötenden Effekte der Chemo- und Strahlentherapie durch Zugabe von Na-Selenit sogar verstärkt werden konnten (1,2).

In klinischen Studien hat sich weiterhin gezeigt, dass u.a. Nebenwirkungen der Chemo- und Strahlentherapien abnehmen, wenn Na-Selenit komplementär verabreicht wird (3,4,5). Dies geht einher mit einer verbesserten Lebensqualität. Auf dieser Basis kann die Standardbehandlung in optimaler Dosierung und Zeitabfolge durchgeführt werden. Dies wiederum bedeutet für Patienten eine optimale Heilungschance.

Bewertung und Empfehlung

Grundlage für die komplementäre Gabe von Na-Selenit unter Chemo- und Strahlentherapie ist die Erkenntnis, dass ernährungsbedingter Selenmangel bei Krebspatienten weit verbreitet ist und daher ausgeglichen werden sollte,
Na-Selenit in experimentellen Versuchsanordnungen die Wirksamkeit von Chemo-/Strahlentherapien verstärkt,
Na-Selenit in klinischen Untersuchungen die Lebensqualität von Patienten unter Chemo-/Strahlentherapien verbessert.
 
Unbedenklichkeit und Wirksamkeit der komplementären Gabe von Na-Selenit während einer Chemo-/Strahlentherapie sind durch Studien belegt (3,4,5). Selen (100 -150 Mikrogramm pro Tag), wird international als „Chemopräventivum“, also als krebsvorbeugendes Mittel empfohlen. Nach Möglichkeit sollte jedoch der Selenbedarf im Anschluss an die Therapien durch Ernährungsoptimierung und nur in speziellen Fällen durch die Einnahme von selenhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln erfolgen.

Anwendung

Die komplementärmedizinisch empfehlenswerte Selengabe begleitend zu einer Chemo-/Strahlentherapie beträgt 300 Mikrogramm Na-Selenit pro Tag. Na-Selenit ist für den Organismus direkt verfügbar und deshalb während einer Chemo-/Strahlentherapie organischen Selenpräparaten vorzuziehen.
Überdosierungen von Selen sind äußerst selten und treten nur bei nicht vorschriftsmäßiger Anwendung auf. Anzeichen, die auf eine Überdosierung hinweisen, sind u.a. knoblauchartiger Atemgeruch, Übelkeit, Durchfall und Bauchschmerzen. In derartigen Fällen muss die Selengabe sofort abgesetzt werden!

Tipp

Selenreiche Lebensmittel sind Nüsse, Getreideprodukte, Fisch, Milch, Käse, Eier, Pilze, Hülsenfrüchte und Fleisch.
 

Hinweis

Aktuellen Lehrbuchempfehlungen zufolge sollte die Selenkonzentration im Blut (Serum/Plasma) 120 bis 140 Mikrogramm/ l betragen. Der Studienlage entsprechen bewirken 120 Mikrogramm/l ein Optimum für selenhaltige Enzyme (Selenoprotein P) sowie Schutz vor einegen Krebserkrankungen, 140 Migkrogramm/ l Schutz vor einigen Krebsarten sowie die Verminderung der Mortalität. Selenabhängige ab Blutwerten von 160 Mikrogramm/ l sind neben dem Schutz vor einigen Krebsarten dann allerdings auch ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus, Bluthochdruck und Hyperonie belegt, toxische Effekte treten ab 490 Mikrogramm/ l auf (7).
 

Achtung

Na-Selenit Präparate sollten nicht mit Vitamin-C-haltigen Präparaten, Getränken oder Speisen eingenommen werden! Na-Selenit wird durch Vitamin-C in eine für den Organismus nicht verwertbare Form umgewandelt. Aus diesem Grunde sollte zwischen der Aufnahme von Na-Selenit und Vitamin-C mindestens eine Stunde Abstand eingehalten werden!
 

Kosten

Eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen erfolgt nur bei nachgewiesenem Selenmangel im Blut.
 

Hinweis

Hintergrundinformation SELECT-Studie
Es kommt immer wieder zu Irritationen bezüglich der sinnvollen Einnahme von Selen. In diesem Zusammenhang erfolgt oft der Hinweis auf eine „in Amerika durchgeführte Studie”. Dabei handelt es sich um die sogenannte SELECT-Studie (Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial).(8)
„Die SELECT-Studie liefert weder Hinweise auf eine Schädlichkeit des Spurenelements Selen noch belegen die Daten eine Ineffektivität im Rahmen der Prävention des Prostatakarzinoms. Im Besonderen ist es aufgrund des fundamental hohen basalen Selenstatus der US-Amerikaner unmöglich, aus dieser Studie sinnvolle Schlussfolgerungen auf die Wirkung einer Selensupplementation in schlecht versorgten Individuen zu ziehen.“(6,7)
Hintergrundinformation MARIE-Studie
MARIE* ist eine bevölkerungsbezogene Fall-Kontroll-Studie mit über 10.000 Teilnehmerinnen, die in den Jahren 2002 bis 2005 durchgeführt wurde, um mögliche Risikofaktoren für die Entstehung von Brustkrebs nach den Wechseljahren zu ermitteln. Im Zeitraum 2009 – 2010 fand ein Follow-up der Krebspatientinnen statt (MARIEplus). Studienleiter sind Prof. Dr. Jenny Chang-Claude (DKFZ Heidelberg) und Prof. Dr. Dieter Flesch-Janys (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf).

(1) Hehr T et al.: Präklinische und klinische Relevanz der radioprotektiven Wirkung von Natriumselenit. InFo Onkol. S2:25-29,1999.
 
(2) Roth T et al.: Cytotoxic profile of sodium selenite (Selenase) and sodium selenite in combination with clinically used chemotherapeutic agents in human tumor models. InFo Onkol. S2:30-39:1999.
 
(3) Gröber U, Mücke R, Adamietz IA et al.: Komplementärer Einsatz von Antioxidantien und Mikronährstoffen in der Onkologie. Der Onkologe 19:136-143, 2013
 
(4) Bruns F et al.: Selenium in the treatment of head and neck lymphedema. Med. Princ. Pract. 13:185-190, 2004.
 
(5) Mücke R et al.: Multicenter, phase 3 trial comparing selenium supplementation with observation in gynecologic radiation oncology. International Journal of Radiation Oncology * Biology * Physics 78:828-835, 2010
 
(6) Mücke R et al.: Komplementärer Seleneinsatz in der Onkologie. Der Onkologe 16:181–186, 2010
 
(7) Knasmüller, S (Hrsg.): Krebs und Ernährung, Risiken und Prävention – wissenschaftliche Grundlagen und Ernährungsempfehlungen, 206-209, Thieme, Stuttgart 2014
 
(8) Effect of Selenium and Vitamin E on Risk of Prostate Cancer and Other Cancers. The Selenium and Vitamin E Cancer Prevention Trial (SELECT) JAMA. 2009; 301 (1):39-51. Publlished online December 9, 2008; doi: 10.1001(jama.2008.864).